Stilles Sterben in Odessa
Manuskript des Beitrages vom 28.11.2004 von Karsten Hein und Mathias Schaefer, MDR, Windrose

Wer in der Ukraine an Aids erkrankt, gilt als Aussätziger. Medizinische Versorgung oder psychologische Betreuung - Fehlanzeige. Also verheimlichen Infizierte ihre Krankheit, viele lassen den Aids-Test erst gar nicht machen. Die Krankheit verbreitet sich explosionsartig, Odessa droht eine Katastrophe.

Die Hoffnung stirbt zuletzt in den Plattenbausiedlungen Odessas. Doktor Sinowij Parmakli zu Besuch bei Valéra, einem Aids-Patienten - im Endstadium.

O-Ton: Sinowij Parmakli, Arzt
"So wie hier ist es in den meisten Familien", erklärt Sinowij der Deutschen Inge Banczyk. "Es fehlt am Notwendigsten. Nicht einmal richtiges Essen bekommt er." "Was hat Valéra heute bekommen", fragt Sinowij. "Ein Ei und Tee", antwortet die Mutter.

Armut und Trostlosigkeit in Odessa

O-Ton: Sinowij Parmakli, Arzt
"Das nächste Mal, Valéra, bekommst du eine richtige Mahlzeit. Machs gut."

Valéra hat nichts mehr gegessen. Zwei Tage nach dem Besuch ist er gestorben. Jeder Zehnte in der Millionenstadt Odessa trägt das Immunschwäche-Virus in sich und jeder Zehnte ist drogensüchtig, hängt an der Nadel, der vielleicht größten Ansteckungsgefahr.

In Hinterhöfen, wie diesem, leben Odessas Junkies. Ohne Job, ohne Perspektive. Mit einem selbstgebrauten Sud aus dem Saft der Mohnkapseln betäuben sie ihre Hoffnungslosigkeit.

 

O-Ton: blonde Drogensüchtige
"Als ich das hier das erste Mal gesehen habe, bin ich fast in Ohnmacht gefallen. Aber wenn man leben muss... man erträgt es eben."

80 Prozent der Infizierten sind jünger als 30 Jahre. Aufklärung über die Infektionsgefahr mit HIV gibt es in der Ukraine bis heute nicht. Das Thema Aids wird tot geschwiegen. Lena, seit Jahren infiziert, traut sich nicht mehr unter Menschen:

 

O-Ton: Lena
"Wenn ich nur arbeiten könnte, finanziell steht mir das Wasser bis zum Hals. Aber die Leute ekeln sich vor uns HIV-Positiven. Wir hätten falsch gelebt und bekämen jetzt dafür die Quittung, sagen sie."

Inge Banzcyk ist erschüttert. Nie zuvor hat sie so viel Verachtung und Gleichgültigkeit gegenüber den Kranken erlebt. Das staatliche Aids-Zentrum Odessas habe zwar ein technisch gut ausgerüstetes Labor, urteilt die Deutsche, doch es sei viel zu klein für die explodierende Anzahl an Patienten. Odessa ist Zentrum einer HIV-Welle, die sich dramatisch in Osteuropa ausbreitet.

Auch Sascha wurde von der Nadel infiziert. Seitdem spielt sein Kreislauf völlig verrückt. Dazu der Entzug, er bedeutet grausame Qualen. Medikamente lindern Saschas Schmerzen nur für Minuten.

 

O-Ton: Sascha
"Als ich damit anfing - nicht das es chic war - aber wenn man Drogen nahm, zog man sich gut an, man roch nach Parfüm. Die Leute hatten Angst vor einem - na ja Respekt. Wer Drogen nahm, der war jemand."

Saschas Mutter klagt, ihr Sohn habe oft Fieber. "Ja, das Blut kann nicht fließen", erklärt Sinowij. "Saschas Venen sind völlig verätzt, vom jahrelangen Fixen."

Etwa 3000 Straßenkinder lungern in der verwahrlosten Stadt herum. Ihr wichtigster Trost: der kurze Rausch des giftigen Klebstoffs, den sie schnüffeln. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihnen der Klebstoff nicht mehr ausreicht, die Armut zu vergessen, und auch sie an der Nadel hängen. Wie also soll sie aussehen, die Zukunft der Kinder? Das pure Elend spricht aus diesen Kinderaugen. Vom Staat haben Ukrainer offenbar nichts zu erwarten.

 

AIDS-Kranke werden als Abschaum der Gesellschaft betrachtet


Es gibt eine Klinik für Aids-Patienten, weit draußen vor den Toren der Stadt, eingerichtet in einem Heim für Missgebildete. Finanzhilfen, etwa für den Bau einer modernen Klinik sind bereits aus Hilfsfonds geflossen, aber von ukrainischen Behörden nicht verwendet worden. Aids-Kranke werden hier als Abschaum der Gesellschaft betrachtet. Wie Gefangene verbringen die sterbenskranken Patienten ihre letzten Tage hinter Gittern. Verlassen werden sie die Klinik nur im Sarg.

 

O-Ton: junge Frau
"Jeden Tag stirbt hier jemand. Das ist wirklich schwer zu verkraften."

Ukrainische Ärzte sind ratlos. Nicht einmal Schmerzmittel haben sie, obwohl diese spottbillig sind. Stirbt jemand, hören alle im Zimmer den letzten Schrei. Die Hand halten, ein bisschen Zuneigung geben: das Einzige, was Inge Banzcyk für dieses junge Mädchen tun kann. Niemand kann jetzt noch ihr Leben retten, niemand ihre Schmerzen lindern. Auch sie hat Aids im Endstadium.

 

zuletzt aktualisiert: 30. November 2004 | http://www.mdr.de/windrose/archiv/1707895.html