Die Luftmenschen

"So wollen wir nicht sterben - Aids in Odessa", eine Dokumentation von Karsten Hein
Anke Westphal

Odessa liegt am östlichen Rand der Ukraine; ins Deutsche übersetzt bedeutet Ukraine "Grenzland". Von Berlin aus ist man mit dem Flugzeug in zwei Stunden da. Der Regisseur Karsten Hein hat die Reise im Oktober 2003 unternommen, um die Krankenschwester Inge Banczyk zu begleiten, die in der immunologischen Tagesklinik des Auguste-Viktoria-Klinikums und im Vorstand der Berliner Aids-Hilfe arbeitet. Seit zwei Jahren setzt sich das Auguste-Viktoria-Klinikum für die Bekämpfung von Aids in der Ukraine ein. Aids in der Ukraine?

Vierzig Millionen Menschen sind derzeit weltweit mit Aids infiziert. Die Ukraine ist der nächste Nachbar der EU; sie hat 49 Millionen Einwohner und war ehemals die Kornkammer Europas. Odessa, die Hafenstadt am Schwarzen Meer mit der berühmten Treppe aus Sergej Eisensteins "Panzerkeuzer Potemkin", hat etwas über eine Million Einwohner. 1821 grassierte hier die Diphterie; 1828 die Pest. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation sind in Odessa 150 000 Menschen mit HIV infiziert. Das wäre jeder zehnte Einwohner.

Warum soll man sich einen Film über Aids in Odessa ansehen? Über Menschen, die vom Abfall leben müssen, weil sie keine Angehörigen haben, die sich um sie kümmern. Wir kennen die Bilder aus Afrika; doch zu Aids in Osteuropa fehlen uns Bilder, und was nicht Bild wird, ist unendlich weit weg. Karsten Hein ist mit Inge Banczyk, Schwester Larissa und Dr. Sinofij zu Patienten gegangen, infizierten und bereits schwer erkrankten. Alle leben in Armut. Das Elend, dessen der Zuschauer ansichtig wird, ist fast allmächtig. Gebrauchte Drogenbestecke liegen in verrotteten Hinterhöfen, zwischen Ratten und Müll. Obdachlose, Klebstoff schnüffelnde Kinder spielen toter Mann auf den Straßenbahngleisen. Weil die internationalen Drogentransportwege durch Odessa führen und die Stadt zudem von einem Mohnfeldergürtel umgeben ist, hat sie eine ungewöhnlich hohe Suchtrate: Auf 100 000 schätzt der Sozialarbeiter Slawka die Zahl der Süchtigen. Slawka ist seit fünf Jahren clean; vorher war er fünfzehn Jahre heroinabhängig. Die Sowjetunion hatte nicht nur ein Drogen-, sondern auch ein Aids-Problem. Seit 1987 gibt es eine entsprechende Datenbank in Odessa.

Der ukrainische Staat hat sich längst aus der Verantwortung gestohlen. In zwei Aids-Stationen außerhalb Odessas sind Kranke im letzten Stadium quasi interniert; die Leichen der über Nacht Gestorbenen müssen sie am Morgen selbst forttragen. Häusliche Krankenpflege gibt es nur auf Privat- und Selbsthilfebasis. Medikamente sind zu teuer, aber selbst billige Schmerzmedikamente werden den Leidenden vorenthalten - sie sterben ja sowieso. 20 Millionen Euro vom Global Fund für Medikamente wurden an die ukrainischen Behörden überwiesen, aber von ihnen nie gegen Aids eingesetzt. Die Korruption tötet die Armen. "In jedem Treppenflur", so erzählt der Dolmetscher im Film, "liegt jetzt eine Leiche - mindestens". Drei Männer stehen an der Straße neben einem Toten, aber die Miliz holen sie nicht, weil sie dann "Scherereien" hätten.

Warum soll man sich auch um "Luftmenschen" kümmern? "Luftmenschen", so hat der Schriftsteller Isaak Babel einst jene genannt, die unsichtbar bleiben sollen: Sieche, Sterbende, Bettler, Wohnungslose, Süchtige. Die Menschen in Odessa lassen sich nicht auf HIV testen, weil der Test Geld kostet, das sie ohnehin nicht haben, und weil es keine Medikamente und keine Aussicht auf Heilung gibt. Aids ist in der Ukraine ein Tabu. Die Leute fürchten zu Recht, dass sie diskriminiert werden: Sie gelten als "Abfall der Gesellschaft", als Menschen, die nun die gerechte Strafe für ihren Lebenswandel erleiden. Lena vom Selbsthilfeverein "Life plus" wurde nach ihrer HIV-Diagnose sofort entlassen; sie war Krankenschwester - ihr Mann hat sie infiziert. Die HIV-träger tun alles, um die Infektion zu verheimlichen. Eine Zeitbombe. Die Behörden leugnen die Epidemie.

Die Verhältnisse sind schockierend. Unterträglich. Karsten Hein weiß, dass ihre weitere Dramatisierung obszön wäre. Dass man sie nicht ausbeuten darf. Inge Banczyk tut das Richtige; mit großer Ruhe und warmer Sachlichkeit berät sie die heroischen Helfer und Ärzte, steht sie Kranken bei. Im nächsten Sommer wird sie wieder nach Odessa fahren, um Krankenschwestern auszubilden. Denn nicht nur die Bilder werden uns ereichen, auch ihre Realität wird zu uns kommen. - Karsten Hein hat achtzehn Infizierten, die in seinem Film mitgewirkt haben, versprochen, dass er nicht in der Ukraine gezeigt wird.

So wollen wir nicht sterben - Aids in Odessa D 2004. Dokumentation. Buch & Regie: Karsten Hein, Kamera: Dirk Plamböck, Produktion: Karsten Hein; 76 Minuten, Farbe.